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“Raiffeisenzeitung” Nr. 18/2022 vom 05.05.2022: Interview von CHRISTIAN LOVRINOVIC : Interview mit RBI-Vorstand Andrii Stepanenko

“Den Glauben ans Gute nicht verlieren”

Die Raiffeisen Bank International (RBI) engagiert sich stark bei der humanitären Hilfe für die Ukraine. Im Gespräch gibt RBI-Vorstand Andrii Stepanenko einen Überblick über die Hilfsmaßnahmen, den Bankbetrieb in der Ukraine und die Folgen für das Privatkundengeschäft.

Lovrinovic: Herr Stepanenko, Sie engagieren sich für die humanitäre Hilfe der Raiffeisen Bank International für Ihre Heimat Ukraine und erleben den schrecklichen Krieg auch hautnah mit. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Tragödie um?

Stepanenko: Die Situation ist in der Tat sehr belastend. Es sind nun mehr als zwei Monate der ständigen Sorge um meine Familie, Verwandten, Freunde, Kollegen, Bekannten, Kinder, Frauen und Männer in der Ukraine. Ich habe versucht, über die Osterfeiertage ein wenig Ablenkung zu finden, auch wenn das natürlich sehr schwerfällt.

Lovrinovic: Die Ukraine hat eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität quer über den Globus erfahren. Wie viel Kraft und Zuversicht gibt Ihnen das?

Stepanenko: Der Krieg bringt das Schlimmste und das Beste im Menschen zum Vorschein. Es hilft sehr zu sehen, wie viele gute Menschen es auf der ganzen Welt gibt, die, ohne zu zögern, großzügige Hilfe anbieten. Wir dürfen den Glauben an das Gute nicht verlieren.

Lovrinovic: Auch die RBI engagiert sich sehr stark, um den RBI-Kollegen und den Menschen in der Ukraine zu helfen. Was konnte die RBI bisher bewegen?

Stepanenko: Der RBI-Konzern leistet seit den ersten Kriegsstunden Hilfe. Ich bin begeistert und berührt von der Solidarität und Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter in allen unseren Netzwerkbanken. Hunderte Kollegen in der Slowakei, Rumänien, Tschechien, Polen, Ungarn, Bulgarien und Österreich haben sich freiwillig gemeldet, um den Transport von der Grenze, Unterkunft, Verpflegung, Bargeld und medizinische Versorgung zu gewährleisten. Aktuell unterstützen wir über 900 Kollegen aus der Ukraine samt ihren Familien. Insgesamt sind das mehr als 2.240 Personen. Allein in Wien haben wir ein Kernteam von rund 20 Freiwilligen, die von mehr als 200 weiteren Helfern unterstützt werden. Auch der RBI-Konzern spendete rund 10 Millionen Euro. Zusätzlich wurden etwa 8 Millionen Euro von Mitarbeitern und Kunden gespendet. Mit diesem Geld unterstützen wir etablierte Hilfsorganisationen, die direkt in der Ukraine sowie an ihren Grenzen tätig sind.

Lovrinovic: Wie wird konkret geholfen?

Stepanenko: Für ausreisewillige Kollegen haben wir eine Informations-Hotline eingerichtet. Die meisten Männer dürfen aufgrund des Kriegsrechts das Land nicht verlassen. Diese Hotline ist rund um die Uhr besetzt. Wir holen unsere Kollegen und ihre Familien an den Landesgrenzen ab, bieten ihnen eine Unterbringung und versorgen sie mit dem Notwendigsten. Wir unterstützen sie bei Behördengängen, helfen mit Übersetzungen und vielem mehr. Und natürlich kümmern wir uns nicht nur um unsere Kollegen und ihre Familien, sondern leisten unseren Beitrag für alle Geflüchteten. Raiffeisen hat die vereinfachte Einführung von gebührenfreien Bankkonten ermöglicht und ist Vorreiter beim Umtausch der ukrainischen Währung Hrywnja. Nicht nur die RBI, sondern die ganze österreichische Raiffeisengruppe hilft und dafür sind wir sehr dankbar. Was einer nicht vermag, das vermögen viele. Sehr stolz sind wir außerdem auf die Eröffnung eines Bildungszentrums für 120 ukrainische Jugendliche am ehemaligen Sitz der Raiffeisen Centrobank in Wien. Sie haben dort die Möglichkeit, weiterhin zur Schule zu gehen und ihren ukrainischen Schulabschluss zu machen. Vor Ort in der Ukraine kümmert sich die Stepic CEE Charity um Waisenkinder und zahlreiche Familien in Not.

Lovrinovic: Wie schwierig gestaltet sich die Hilfe vor Ort?

Stepanenko: Die Unterstützung unserer Mitarbeiter in der Ukraine wird von unserer Bank sehr professionell und effizient umgesetzt. Die Unterstützung der Zivilbevölkerung wird durch das Rote Kreuz geleistet. Unsere Bank hat eine großzügige Spende in Höhe von 5 Millionen Euro getätigt.

Lovrinovic: Geholfen wird nicht nur von der RBI-Zentrale, sondern auch von den Netzwerkbanken. Wie läuft die Koordinierung in der Raiffeisen-Familie?

Stepanenko: Unsere Tochterbanken, besonders in den Nachbarländern der Ukraine und vor allem in Polen, leisten Herausragendes. Unser “Raiffeisen Community Support” bündelt Initiativen in Österreich, Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Polen. Wir tauschen uns ständig aus und lernen voneinander.

Lovrinovic: Die russische Aggression hat viele Teile der Ukraine verwüstet und zerstört. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie bei den humanitären Hilfsmaßnahmen nach über zwei Monaten Krieg?

Stepanenko: Sie kennen die Bilder von zerstörter Infrastruktur und zerstörten Häuser. Die Schäden belaufen sich auf mehrere hundert Milliarden Euro. Die Herausforderungen für den ukrainischen Staat und die Hilfsorganisationen sind enorm.

Lovrinovic: Was wird derzeit am dringendsten für die Menschen in der Ukraine benötigt?

Stepanenko: Die internationalen Hilfsorganisationen haben einen sehr guten Überblick, was derzeit am dringendsten benötigt wird. Wenn man den Menschen in der Ukraine helfen möchte, dann am besten über Spenden an diese renommierten und erfahrenen Organisationen.

Lovrinovic: Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar. Worauf stellen Sie sich bei der humanitären Hilfe ein?

Stepanenko: Nach zunächst kurzfristigen Unterbringungsmöglichkeiten für unsere geflüchteten Kollegen und deren Familien liegt jetzt der Fokus auf langfristigere Wohnangebote, dem Aufbau einer Jobvermittlungsplattform für ukrainische Kollegen sowie der Organisation von Sprachkursen. Wir müssen in der Tat einen langen Atem haben.

Lovrinovic: Neben der humanitären Hilfe ist es auch wichtig, den Bankbetrieb in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Wie gut gelingt das der ukrainischen RBI-Tochter?

Stepanenko: Die Situation ist äußerst herausfordernd. Die Mitarbeiter in der Ukraine leisten Unglaubliches, um den Betrieb unserer Bank aufrechtzuerhalten. Seit Ausbruch des Krieges hat es keine Unterbrechung des Bankbetriebs gegeben. Ungefähr zwei Drittel der rund 400 Filialen haben täglich geöffnet. Die Situation wird von Tag zu Tag von der lokalen Geschäftsleitung genau beobachtet und bewertet. Sie entscheidet, ob aufgesperrt wird oder nicht. Die Sicherheit hat dabei oberste Priorität. Und natürlich sind außer Bargeldtransaktionen alle wichtigen Bankdienstleistungen auch über digitale Kanäle möglich.

Lovrinovic: Sie sind in der RBI für das Privatkundengeschäft verantwortlich. Wie spüren Sie die Folgen des Krieges im Retailbanking?

Stepanenko: Bis zum Einmarsch der russischen Truppen befanden wir uns in einem Aufwärtstrend und waren zuversichtlich, auch heuer an die Erfolge des vergangenen Jahres anknüpfen zu können. Die Tatsache, dass Russland noch Anfang 2022 einen Angriffskrieg auf ein Nachbarland durchführt, hat mich als Ukrainer, der lange in Russland gearbeitet hat, stark überrascht. Als mich ein Mitarbeiter Mitte Jänner nach meiner Einschätzung fragte, bezifferte ich die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs seitens Russlands mit 30 bis 40 Prozent. Die unmittelbaren Folgen für das Retailgeschäft waren jedoch erst im März spürbar, als das Kreditvolumen -insbesondere im kurzfristigen Bereich -merklich einbrach. Die Kunden sind verunsichert, die gestiegene Inflation, die durch steigende Energiepreise dominiert wird, hat zu erheblichen Unsicherheiten in unseren Märkten geführt. Seit März haben wir auch in allen drei betroffenen Märkten Russland, Ukraine und Weißrussland das Kreditgeschäft fast vollständig eingestellt.

Lovrinovic: Der Krieg hat jahrelange Fortschritte der Ukraine, aber auch der RBI als Brückenbauer nach Osteuropa zunichte gemacht. Was gibt Ihnen Kraft in dieser schrecklichen Situation, um nicht zu resignieren?

Stepanenko: Ich schöpfe meine Motivation aus der Tatsache, gemeinsam mit einem engagierten und zielorientierten Team für unsere Kunden zu arbeiten, um deren Leben positiv beeinflussen zu können. Die RBI hat in der Vergangenheit bereits viele Herausforderungen gemeistert und wenn wir uns auch in Zukunft auf unsere bewährten Werte besinnen, dann werden wir auch aus dieser Situation gestärkt herauskommen. In den letzten 30 Jahren wurden zahlreiche Brücken nach und in Zentral-und Osteuropa gebaut - auch mit Hilfe der RBI. Und diese Brücken sind sehr stark. Das beweist die Solidarität, die wir derzeit europaweit erleben.

Raiffeisen Zeitung

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